Probleme bei der Alterseinschätzung von neu ankommenden unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen sind ein altbekanntes und umstrittenes Phänomen, das im vergangenen Jahr jedoch wieder besonders präsent in unserer Beratungspr axis war. Gerade durch unsere Beratung vor Ort in den Ankerzentren durch die Infobus-Projekte kamen wir immer wieder in Kontakt mit jungen
Geflüchteten, die Angaben minderjährig zu sein, jedoch durch die Alterseinschätzung der Jugendämter als volljährig eingestuft wurden. Häufig werden dabei auch die vorgelegten Dokumente der Betroffenen ignoriert und es wird wenig transparent kommuniziert, wie die
Fachkräfte zu ihrer Entscheidung gekommen sind. Deshalb haben wir zu diesem Thema im letzten Jahr auf verschiedenen Ebenen verstärkt den Austausch gesucht.Seit Anfang des Jahres 2021 organisierte der Münchner Flüchtlingsrat regelmäßig einen Austausch zwischen Beratungsstellen, rechtlichen Vertretungen, Kinderärzt:innen und dem Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zur Situation hinsichtlich der Alterseinschätzung in München. Nachdem die Praxis in München in den Jahren hoher Ankunftszahlen junger Geflüchteter von einer guten Kooperation des städtischen Jugendamtes mit den freien Trägern gekennzeichnet war, werden die Alterseinschätzungen inzwischen ausschließlich vom Jugendamt durchgeführt. Bedauerlicherweise mussten wir mit dieser Änderung gravierende Mängel im Rahmen des Altersfeststellungsverfahrens – auch und leider vor allem im Young Refugee Center (YRC) in München – beobachten.
Aus dem Austausch entstand ein Positionspapier, das auch von mehreren Münchner Migrationsanwält:innen sowie dem MFR und dem Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unterzeichnet wurde und dem Stadtrat und Jugendamt vorgelegt
wurde. In dem Papier kritisieren wir insbesondere den Ablauf der qualifizierten Inaugenscheinnahme durch das YRC selbst, die Willkürlichkeit bei Festsetzung der Volljährigkeit sowie grundlegend die Methoden der medizinischen Alterseinschätzung. Außerdem werden im Kontext der Thematik auch die fehlende Betreuung und Beratung nach Beendigung der Inobhutnahme aufgrund (scheinbarer) Volljährigkeit bemängelt, die häufig dazu führen, dass die betroffenen jungen Geflüchteten trotz eindeutigem Hilfebedarf allein im Ankerzentrum untergebracht werden – mit den bekannten Problemen hinsichtlich niedrigem Betreuungsschlüssel durch die Sozialberatung, Isolation und fehlender Beschulung. Es muss daher nach der Alterseinschätzung dringend auch abgeklärt werden, ob eine sozialpädagogische Betreuung notwendig ist, was in den von uns betreuten Fällen nicht passiert ist beziehungsweise erst durch die Mitarbeiter*innen unserer Beratungsangebote erfolgte. Das Sozialreferat als übergeordnete Behörde des Jugendamtes wies unsere Kritik – wie auch in den vergangenen Jahren – gänzlich zurück. Die Problematik wurde auch in verschiedenenstädtischen Fachkreisen besprochen, auch unter Teilnahme des Stadtjugendamts, ohne dass jedoch eine grundlegende Veränderungsbereitschaft signalisiert wurde. Weitere Gespräche und ein Ortstermin im YRC seitens des Münchner Flüchtlingsrats mussten bisher aufgrund der Corona-Situation verschoben werden. In unserer Beratung tauchen weiterhin neue Fälle auf, in denen die Alterseinschätzung problematisch verlaufen ist und wir eine potenzielle Gefährdung des Kindeswohls befürchten müssen. Daher werden wir weiterhin versuchen, bei dem Thema mit den verantwortlichen Behörden im Gespräch zu bleiben, um positive Veränderungen im Sinne unserer Klient:innen und der Wahrung ihrer Rechte zu erreichen. Mit unserer Forderung nach Erstellen eines transparenten, an den Bedürfnissen und Rechten von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen orientierten Handlungsleitfadens zur Alterseinschätzung und der Wieder-Beteiligung der freien
Träger in der sozialpädagogischen Inaugenscheinnahme haben wir konkrete Vorschläge für eine bessere Praxis der Alterseinschätzung in München. Auch in der Beratung legen wir weiterhin einen starken Fokus auf das Thema: Über Informationsangebote, die im YRC ausliegen und auch über den Infobus für Flüchtlinge in der Erstaufnahmeeinrichtung in der Maria-Probst-Straße und über die Kurzaufnahme in der LotteBranz-Straße verteilt werden, klärt der Münchner Flüchtlingsrat die Betroffenen von Alterseinschätzungen, die mit Feststellung der Volljährigkeit endeten, über Unterstützungsmöglichkeiten und Rechtsmittel gegen die Entscheidung auf.